-
Notifications
You must be signed in to change notification settings - Fork 0
/
Copy pathtest_german1.txt
2913 lines (2475 loc) · 147 KB
/
test_german1.txt
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
242
243
244
245
246
247
248
249
250
251
252
253
254
255
256
257
258
259
260
261
262
263
264
265
266
267
268
269
270
271
272
273
274
275
276
277
278
279
280
281
282
283
284
285
286
287
288
289
290
291
292
293
294
295
296
297
298
299
300
301
302
303
304
305
306
307
308
309
310
311
312
313
314
315
316
317
318
319
320
321
322
323
324
325
326
327
328
329
330
331
332
333
334
335
336
337
338
339
340
341
342
343
344
345
346
347
348
349
350
351
352
353
354
355
356
357
358
359
360
361
362
363
364
365
366
367
368
369
370
371
372
373
374
375
376
377
378
379
380
381
382
383
384
385
386
387
388
389
390
391
392
393
394
395
396
397
398
399
400
401
402
403
404
405
406
407
408
409
410
411
412
413
414
415
416
417
418
419
420
421
422
423
424
425
426
427
428
429
430
431
432
433
434
435
436
437
438
439
440
441
442
443
444
445
446
447
448
449
450
451
452
453
454
455
456
457
458
459
460
461
462
463
464
465
466
467
468
469
470
471
472
473
474
475
476
477
478
479
480
481
482
483
484
485
486
487
488
489
490
491
492
493
494
495
496
497
498
499
500
501
502
503
504
505
506
507
508
509
510
511
512
513
514
515
516
517
518
519
520
521
522
523
524
525
526
527
528
529
530
531
532
533
534
535
536
537
538
539
540
541
542
543
544
545
546
547
548
549
550
551
552
553
554
555
556
557
558
559
560
561
562
563
564
565
566
567
568
569
570
571
572
573
574
575
576
577
578
579
580
581
582
583
584
585
586
587
588
589
590
591
592
593
594
595
596
597
598
599
600
601
602
603
604
605
606
607
608
609
610
611
612
613
614
615
616
617
618
619
620
621
622
623
624
625
626
627
628
629
630
631
632
633
634
635
636
637
638
639
640
641
642
643
644
645
646
647
648
649
650
651
652
653
654
655
656
657
658
659
660
661
662
663
664
665
666
667
668
669
670
671
672
673
674
675
676
677
678
679
680
681
682
683
684
685
686
687
688
689
690
691
692
693
694
695
696
697
698
699
700
701
702
703
704
705
706
707
708
709
710
711
712
713
714
715
716
717
718
719
720
721
722
723
724
725
726
727
728
729
730
731
732
733
734
735
736
737
738
739
740
741
742
743
744
745
746
747
748
749
750
751
752
753
754
755
756
757
758
759
760
761
762
763
764
765
766
767
768
769
770
771
772
773
774
775
776
777
778
779
780
781
782
783
784
785
786
787
788
789
790
791
792
793
794
795
796
797
798
799
800
801
802
803
804
805
806
807
808
809
810
811
812
813
814
815
816
817
818
819
820
821
822
823
824
825
826
827
828
829
830
831
832
833
834
835
836
837
838
839
840
841
842
843
844
845
846
847
848
849
850
851
852
853
854
855
856
857
858
859
860
861
862
863
864
865
866
867
868
869
870
871
872
873
874
875
876
877
878
879
880
881
882
883
884
885
886
887
888
889
890
891
892
893
894
895
896
897
898
899
900
901
902
903
904
905
906
907
908
909
910
911
912
913
914
915
916
917
918
919
920
921
922
923
924
925
926
927
928
929
930
931
932
933
934
935
936
937
938
939
940
941
942
943
944
945
946
947
948
949
950
951
952
953
954
955
956
957
958
959
960
961
962
963
964
965
966
967
968
969
970
971
972
973
974
975
976
977
978
979
980
981
982
983
984
985
986
987
988
989
990
991
992
993
994
995
996
997
998
999
1000
Aquis submersus
Theodor Storm
Novelle (1876)
In unserem zu dem früher herzoglichen Schlosse gehörigen, seit
Menschengedenken aber ganz vernachlässigten "Schloßgarten" waren
schon in meiner Knabenzeit die einst im altfranzösischen Stile
angelegten Hagebuchenhecken zu dünnen, gespenstischen Alleen
ausgewachsen; da sie indessen immerhin noch einige Blätter tragen,
so wissen wir Hiesigen, durch Laub der Bäume nicht verwöhnt, sie
gleichwohl auch in dieser Form zu schätzen; und zumal von uns
nachdenklichen Leuten wird immer der eine oder andre dort zu
treffen sein. Wir pflegen dann unter dem dürftigen Schatten nach
dem sogenannten "Berg" zu wandern, einer kleinen Anhöhe in der
nordwestlichen Ecke des Gartens oberhalb dem ausgetrockneten Bette
eines Fischteiches, von wo aus der weitesten Aussicht nichts im
Wege steht.
Die meisten mögen wohl nach Westen blicken, um sich an dem lichten
Grün der Marschen und darüberhin an der Silberflut des Meeres zu
ergötzen, auf welcher das Schattenspiel der langgestreckten Insel
schwimmt; meine Augen wenden unwillkürlich sich nach Norden, wo,
kaum eine Meile fern, der graue spitze Kirchturm aus dem höher
belegenen, aber öden Küstenlande aufsteigt; denn dort liegt eine
von den Stätten meiner Jugend.
Der Pastorssohn aus jenem Dorfe besuchte mit mir die
"Gelehrtenschule" meiner Vaterstadt, und unzählige Male sind wir am
Sonnabendnachmittage zusammen dahinaus gewandert, um dann am
Sonntagabend oder montags früh zu unserem Nepos oder später zu
unserem Cicero nach der Stadt zurückzukehren. Es war damals auf
der Mitte des Weges noch ein gut Stück ungebrochener Heide übrig,
wie sie sich einst nach der einen Seite bis fast zur Stadt, nach
der anderen ebenso gegen das Dorf erstreckt hatte. Hier summten
auf den Blüten des duftenden Heidekrauts die Immen und weißgrauen
Hummeln und rannte unter den dürren Stengeln desselben der schöne
goldgrüne Laufkäfer; hier in den Duftwolken der Eriken und des
harzigen Gagelstrauches schwebten Schmetterlinge, die nirgends
sonst zu finden waren. Mein ungeduldig dem Elternhause
zustrebender Freund hatte oft seine liebe Not, seinen träumerischen
Genossen durch all die Herrlichkeiten mit sich fortzubringen;
hatten wir jedoch das angebaute Feld erreicht, dann ging es auch
um desto munterer vorwärts, und bald, wenn wir nur erst den
langen Sandweg hinaufwateten, erblickten wir auch schon über dem
dunkeln Grün einer Fliederhecke den Giebel des Pastorhauses,
aus dem das Studierzimmer des Pastors mit seinen kleinen blinden
Fensterscheiben auf die bekannten Gäste hinabgrüßte.
Bei den Pastorsleuten, deren einziges Kind mein Freund war, hatten
wir allezeit, wie wir hier zu sagen pflegen, fünf Quartier auf der
Elle, ganz abgesehen von der wunderbaren Naturalverpflegung. Nur
die Silberpappel, der einzig hohe und also auch einzig verlockende
Baum des Dorfes, welche ihre Zweige ein gut Stück oberhalb des
bemoosten Strohdaches rauschen ließ, war gleich dem Apfelbaum des
Paradieses uns verboten und wurde daher nur heimlich von uns
erklettert; sonst war, soviel ich mich entsinne, alles erlaubt und
wurde ja nach unserer Altersstufe bestens von uns ausgenutzt.
Der Hauptschauplatz unserer Taten war die große "Priesterkoppel",
zu der ein Pförtchen aus dem Garten führte. Hier wußten wir mit
dem den Buben angebotenen Instinkte die Nester der Lerchen und der
Grauammern aufzuspüren, denen wir dann die wiederholtesten Besuche
abstatteten, um nachzusehen, wie weit in den letzten zwei Stunden
die Eier oder die Jungen nun gediehen seien; hier auf einer
tiefen und, wie ich jetzt meine, nicht weniger als jene Pappel
gefährlichen Wassergrube, deren Rand mit alten Weidenstümpfen dicht
umstanden war, fingen wir die flinken schwarzen Käfer, die wir
"Wasserfranzosen" nannten, oder ließen wir ein andermal unsere
auf einer eigens angelegten Werft erbaute Kriegsflotte aus
Walnußschalen und Schachteldeckeln schwimmen. Im Spätsommer
geschah es dann auch wohl, daß wir aus unserer Koppel einen
Raubzug nach des Küsters Garten machten, welcher gegenüber dem
des Pastorates an der anderen Seite der Wassergrube lag; denn
wir hatten dort von zwei verkrüppelten Apfelbäumen unseren
Zehnten einzuheimsen, wofür uns freilich gelegentlich eine
freundschaftliche Drohung von dem gutmütigen alten Manne zuteil
wurde.--So viele Jugendfreuden wuchsen auf dieser Priesterkoppel,
in deren dürrem Sandboden andere Blumen nicht gedeihen wollten; nur
den scharfen Duft der goldknopfigen Rainfarren, die hier haufenweis
auf allen Wällen standen, spüre ich noch heute in der Erinnerung,
wenn jene Zeiten mir lebendig werden.
Doch alles dieses beschäftigte uns nur vorübergehend; meine
dauernde Teilnahme dagegen erregte ein anderes, dem wir selbst in
der Stadt nichts an die Seite zu setzen hatten.--Ich meine damit
nicht etwa die Röhrenbauten der Lehmwespen, die überall aus den
Mauerfugen des Stalles hervorragten, obschon es anmutig genug war,
in beschaulicher Mittagsstunde das Aus- und Einfliegen der emsigen
Tierchen zu beobachten; ich meine den viel größeren Bau der alten
und ungewöhnlich stattlichen Dorfkirche. Bis an das Schindeldach
des hohen Turmes war sie von Grund auf aus Granitquadern aufgebaut
und beherrschte, auf dem höchsten Punkt des Dorfes sich erhebend,
die weite Schau über Heide, Strand und Marschen.--Die meiste
Anziehungskraft für mich hatte indes das Innere der Kirche; schon
der ungeheure Schlüssel, der von dem Apostel Petrus selbst zu
stammen schien, erregte meine Phantasie. Und in der Tat erschloß
er auch, wenn wir ihn glücklich dem alten Küster abgewonnen hatten,
die Pforte zu manchen wunderbaren Dingen, aus denen eine längst
vergangene Zeit hier wie mit finstern, dort mit kindlich frommen
Augen, aber immer in geheimnisvollem Schweigen zu uns Lebenden
aufblickte. Da hing mitten in die Kirche hinab ein schrecklich
übermenschlicher Crucifixus, dessen hagere Glieder und verzerrtes
Antlitz mit Blute überrieselt waren; dem zur Seite an einem
Mauerpfeiler haftete gleich einem Nest die braungeschnitzte Kanzel,
an der aus Frucht- und Blattgewinden allerlei Tier- und
Teufelsfratzen sich hervorzudrängen schienen. Besondere Anziehung
aber übte der große geschnitzte Altarschrank im Chor der Kirche,
auf dem in bemalten Figuren die Leidensgeschichte Christi
dargestellt war; so seltsam wilde Gesichter, wie das des Kaiphas
oder die der Kriegsknechte, welche in ihren goldenen Harnischen um
des Gekreuzigten Mantel würfelten, bekam man draußen im
Alltagsleben nicht zu sehen; tröstlich damit kontrastierte nur das
holde Antlitz der am Kreuze hingesunkenen Maria; ja, sie hätte
leicht mein Knabenherz mit einer phantastischen Neigung bestricken
können, wenn nicht ein anderes mit noch stärkerem Reize des
Geheimnisvollen mich immer wieder von ihr abgezogen hätte.
Unter all diesen seltsamen oder wohl gar unheimlichen Dingen hing
im Schiff der Kirche das unschuldige Bildnis eines toten Kindes,
eines schönen, etwa fünfjährigen Knaben, der, auf einem mit Spitzen
besetzten Kissen ruhend, eine weiße Wasserlilie in seiner kleinen
bleichen Hand hielt. Aus dem zarten Antlitz sprach neben dem
Grauen des Todes, wie hülfeflehend, noch eine letzte holde Spur des
Lebens; ein unwiderstehliches Mitleid befiel mich, wenn ich vor
diesem Bilde stand.
Aber es hing nicht allein hier; dicht daneben schaute aus dunklem
Holzrahmen ein finsterer, schwarzbärtiger Mann in Priesterkragen
und Sammar. Mein Freund sagte mir, es sei der Vater jenes schönen
Knaben; dieser selbst, so gehe noch heute die Sage, solle einst in
der Wassergrube unserer Priesterkoppel seinen Tod gefunden haben.
Auf dem Rahmen lasen wir die Jahreszahl 1666; das war lange
her. Immer wieder zog es mich zu diesen beiden Bildern; ein
phantastisches Verlangen ergriff mich, von dem Leben und Sterben
des Kindes eine nähere, wenn auch noch so karge Kunde zu erhalten;
selbst aus dem düsteren Antlitz des Vaters, das trotz des
Priesterkragens mich fast an die Kriegsknechte des Altarschranks
gemahnen wollte, suchte ich sie herauszulesen.
--Nach solchen Studien in dem Dämmerlicht der alten Kirche erschien
dann das Haus der guten Pastorsleute nur um so gastlicher.
Freilich war es gleichfalls hoch zu Jahren, und der Vater meines
Freundes hoffte, so lange ich denken konnte, auf einen Neubau;
da aber die Küsterei an derselben Altersschwäche litt, so wurde
weder hier noch dort gebaut.--Und doch, wie freundlich waren
trotzdem die Räume des alten Hauses; im Winter die kleine Stube
rechts, im Sommer die größere links vom Hausflur, wo die
aus den Reformationsalmanachen herausgeschnittenen Bilder in
Mahagonirähmchen an der weißgetünchten Wand hingen, wo man aus dem
westlichen Fenster nur eine ferne Windmühle, außerdem aber den
ganzen weiten Himmel vor sich hatte, der sich abends in rosenrotem
Schein verklärte und dann das ganze Zimmer überglänzte! Die lieben
Pastorsleute, die Lehnstühle mit den roten Plüschkissen, das alte
tiefe Sofa, auf dem Tisch beim Abendbrot der traulich sausende
Teekessel--es war alles helle, freundliche Gegenwart. Nur eines
Abends--wir waren derzeit schon Sekundaner--kam mir der Gedanke,
welch eine Vergangenheit an diesen Räumen hafte, ob nicht
gar jener tote Knabe einst mit frischen Wangen hier leibhaftig
umhergesprungen sei, dessen Bildnis jetzt wie mit einer wehmütig
holden Sage den düsteren Kirchenraum erfüllte.
Veranlassung zu solcher Nachdenklichkeit mochte geben, daß ich am
Nachmittage, wo wir auf meinen Antrieb wieder einmal die Kirche
besucht hatten, unten in einer dunkeln Ecke des Bildes vier mit
roter Farbe geschriebene Buchstaben entdeckt hatte, die mir bis
jetzt entgangen waren.
"Sie lauten C. P. A. S.", sagte ich zu dem Vater meines Freundes;
"aber wir können sie nicht enträtseln."
"Nun", erwiderte dieser, "die Inschrift ist mir wohl bekannt; und
nimmt man das Gerücht zu Hülfe, so möchten die beiden letzten
Buchstaben wohl mit Aquis submersus, also mit 'Ertrunken' oder
wörtlich 'Im Wasser versunken' zu deuten sein; nur mit dem
vorangehenden C. P. wäre man dann noch immer in Verlegenheit!
Der junge Adjunktus unseres Küsters, der einmal die Quarta passiert
ist, meint zwar, es könne Casu periculoso--'Durch gefährlichen
Zufall'--heißen; aber die alten Herren jener Zeit dachten logischer;
wenn der Knabe dabei ertrank, so war der Zufall nicht nur bloß
gefährlich."
Ich hatte begierig zugehört. "Casu" sagte ich; "es könnte auch
wohl 'Culpa' heißen?"
"Culpa?" wiederholte der Pastor. "Durch Schuld?--aber durch wessen
Schuld?"
Da trat das finstere Bild des alten Predigers mir vor die Seele,
und ohne viel Besinnen rief ich: "Warum nicht: Culpa patris?"
Der gute Pastor war fast erschrocken. "Ei, ei, mein junger Freund",
sagte er und erhob warnend den Finger gegen mich. "Durch Schuld
des Vaters?--So wollen wir trotz seines düsteren Ansehens meinen
seligen Amtsbruder doch nicht beschuldigen. Auch würde er
dergleichen wohl schwerlich von sich haben schreiben lassen."
Dies letztere wollte auch meinem jugendlichen Verstande einleuchten;
und so blieb denn der eigentliche Sinn der Inschrift nach wie vor
ein Geheimnis der Vergangenheit.
Daß übrigens jene beiden Bilder sich auch in der Malerei wesentlich
vor einigen alten Predigerbildnissen auszeichneten, welche
gleich daneben hingen, war mir selbst schon klargeworden;
daß aber Sachverständige in dem Maler einen tüchtigen Schüler
altholländischer Meister erkennen wollten, erfuhr ich freilich
jetzt erst durch den Vater meines Freundes. Wie jedoch ein solcher
in dieses arme Dorf verschlagen worden oder woher er gekommen und
wie er geheißen habe, darüber wußte auch er mir nichts zu sagen.
Die Bilder selbst enthielten weder einen Namen noch ein
Malerzeichen.
Die Jahre gingen hin. Während wir die Universität besuchten, starb
der gute Pastor, und die Mutter meines Schulgenossen folgte später
ihrem Sohne auf dessen inzwischen anderswo erreichte Pfarrstelle;
ich hatte keine Veranlassung mehr, nach jenem Dorfe zu wandern.--Da,
als ich selbst schon in meiner Vaterstadt wohnhaft war, geschah es,
daß ich für den Sohn eines Verwandten ein Schülerquartier bei
guten Bürgersleuten zu besorgen hatte. Der eigenen Jugendzeit
gedenkend, schlenderte ich im Nachmittagssonnenscheine durch die
Straßen, als mir an der Ecke des Marktes über der Tür eines alten
hochgegiebelten Hauses eine plattdeutsche Inschrift in die Augen
fiel, die verhochdeutscht etwa lauten würde:
Gleich so wie Rauch und Staub verschwindt,
Also sind auch die Menschenkind.
Die Worte mochten für jugendliche Augen wohl nicht sichtbar sein;
denn ich hatte sie nie bemerkt, sooft ich auch in meiner Schulzeit
mir einen Heißewecken bei dem dort wohnenden Bäcker geholt hatte.
Fast unwillkürlich trat ich in das Haus; und in der Tat, es fand
sich hier ein Unterkommen für den jungen Vetter. Die Stube ihrer
alten "Möddersch" (Mutterschwester)--so sagte mir der freundliche
Meister--, von der sie Haus und Betrieb geerbt hätten, habe seit
Jahren leer gestanden; schon lange hätten sie sich einen jungen
Gast dafür gewünscht.
Ich wurde eine Treppe hinaufgeführt, und wir betraten dann ein
ziemlich niedriges, altertümlich ausgestattetes Zimmer, dessen
beide Fenster mit ihren kleinen Scheiben auf den geräumigen
Marktplatz hinausgingen. Früher, erzählte der Meister, seien zwei
uralte Linden vor der Tür gewesen; aber er habe sie schlagen lassen,
da sie allzusehr ins Haus gedunkelt und auch hier die schöne
Aussicht ganz verdeckt hätten.
Über die Bedingungen wurden wir bald in allen Teilen einig; während
wir dann aber noch über die jetzt zu treffende Einrichtung des
Zimmers sprachen, war mein Blick auf ein im Schatten eines
Schrankes hängendes Ölgemälde gefallen, das plötzlich meine ganze
Aufmerksamkeit hinwegnahm. Es war noch wohlerhalten und stellte
einen älteren, ernst und milde blickenden Mann dar, in einer
dunklen Tracht, wie in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts sie
diejenigen aus den vornehmeren Ständen zu tragen pflegten, welche
sich mehr mit Staatssachen oder gelehrten Dingen als mit dem
Kriegshandwerke beschäftigten.
Der Kopf des alten Herrn, so schön und anziehend und so trefflich
gemalt er immer sein mochte, hatte indessen nicht diese Erregung in
mir hervorgebracht; aber der Maler hatte ihm einen blassen Knaben
in den Arm gelegt, der in seiner kleinen, schlaff herabhängenden
Hand eine weiße Wasserlilie hielt; und diesen Knaben kannte ich ja
längst. Auch hier war es wohl der Tod, der ihm die Augen
zugedrückt hatte.
"Woher ist dieses Bild?" frug ich endlich, da mir plötzlich
bewußt wurde, daß der vor mir stehende Meister mit seiner
Auseinandersetzung innegehalten hatte.
Er sah mich verwundert an. "Das alte Bild? Das ist von unserer
Möddersch", erwiderte er; "es stammt von ihrem Urgroßonkel, der ein
Maler gewesen und vor mehr als hundert Jahren hier gewohnt hat. Es
sind noch andre Siebensachen von ihm da."
Bei diesen Worten zeigte er nach einer kleinen Lade von Eichenholz,
auf welcher allerlei geometrische Figuren recht zierlich
eingeschnitten waren.
Als ich sie von dem Schranke, auf dem sie stand, herunternahm, fiel
der Deckel zurück, und es zeigten sich mir als Inhalt einige stark
vergilbte Papierblätter mit sehr alten Schriftzügen.
"Darf ich die Blätter lesen?" frug ich.
"Wenn's Ihnen Pläsier macht", erwiderte der Meister, "so mögen Sie
die ganze Sache mit nach Hause nehmen; es sind so alte Schriften;
Wert steckt nicht darin."
Ich aber erbat mir und erhielt auch die Erlaubnis, diese wertlosen
Schriften hier an Ort und Stelle lesen zu dürfen; und während ich
mich dem alten Bilde gegenüber in einen mächtigen Ohrenlehnstuhl
setzte, verließ der Meister das Zimmer, zwar immer noch erstaunt,
doch gleichwohl die freundliche Verheißung zurücklassend, daß seine
Frau mich bald mit einer guten Tasse Kaffee regulieren werde.
Ich aber las und hatte im Lesen bald alles um mich her vergessen.
So war ich denn wieder daheim in unserm Holstenlande; am Sonntage
Cantate war es Anno 1661!--Mein Malgeräth und sonstiges Gepäcke
hatte ich in der Stadt zurückgelassen und wanderte nun fröhlich
fürbaß, die Straße durch den maiengrünen Buchenwald, der von der
See ins Land hinaufsteigt. Vor mir her flogen ab und zu ein paar
Waldvöglein und letzeten ihren Durst an dem Wasser, so in den
tiefen Radgeleisen stund; denn ein linder Regen war gefallen über
Nacht und noch gar früh am Vormittage, so daß die Sonne den
Waldesschatten noch nicht überstiegen hatte.
Der helle Drosselschlag, der von den Lichtungen zu mir scholl, fand
seinen Widerhall in meinem Herzen. Durch die Bestellungen, so mein
theurer Meister van der Helst im letzten Jahre meines Amsterdamer
Aufenthalts mir zugewendet, war ich aller Sorge quitt geworden;
einen guten Zehrpfennig und einen Wechsel auf Hamburg trug ich noch
itzt in meiner Taschen; dazu war ich stattlich angethan: mein Haar
fiel auf mein Mäntelchen mit feinem Grauwerk, und der Lütticher
Degen fehlte nicht an meiner Hüfte.
Meine Gedanken aber eilten mir voraus; immer sah ich Herrn
Gerhardus, meinen edlen großgünstigen Protector, wie er von der
Schwelle seines Zimmers mir die Hände würd' entgegenstrecken, mit
seinem milden Gruße: "So segne Gott deinen Eingang, mein Johannes!"
Er hatte einst mit meinem lieben, ach, gar zu früh in die ewige
Herrlichkeit genommenen Vater zu Jena die Rechte studiret und war
auch nachmals den Künsten und Wissenschaften mit Fleiße obgelegen,
so daß er dem Hochseligen Herzog Friederich bei seinem edlen,
wiewohl wegen der Kriegsläufte vergeblichen Bestreben um Errichtung
einer Landesuniversität ein einsichtiger und eifriger Berather
gewesen. Obschon ein adeliger Mann, war er meinem lieben Vater
doch stets in Treuen zugethan blieben, hatte auch nach dessen
seligem Hintritt sich meiner verwaiseten Jugend mehr, als zu
verhoffen, angenommen und nicht allein meine sparsamen Mittel
aufgebessert, sondern auch durch seine fürnehme Bekanntschaft unter
dem Holländischen Adel es dahin gebracht, daß mein theuerer Meister
van der Helst mich zu seinem Schüler angenommen.
Meinte ich doch zu wissen, daß der verehrte Mann unversehrt auf
seinem Herrenhofe sitze, wofür dem Allmächtigen nicht genug zu
danken; denn, derweilen ich in der Fremde mich der Kunst beflissen,
war daheim die Kriegsgreuel über das Land gekommen; so zwar, daß
die Truppen, die gegen den kriegswüthigen Schweden dem Könige zum
Beistand hergezogen, fast ärger als die Feinde selbst gehauset, ja
selbst der Diener Gottes mehrere in jämmerlichen Tod gebracht.
Durch den plötzlichen Hintritt des Schwedischen Carolus war nun
zwar Friede; aber die grausamen Stapfen des Krieges lagen überall;
manch Bauern- oder Käthnerhaus, wo man mich als Knaben mit einem
Trunke süßer Milch bewirthet, hatte ich auf meiner Morgenwanderung
niedergesenget am Wege liegen sehen und manches Feld in ödem
Unkraut, darauf sonst um diese Zeit der Roggen seine grünen Spitzen
trieb.
Aber solches beschwerete mich heut nicht allzu sehr; ich hatte nur
Verlangen, wie ich dem edlen Herrn durch meine Kunst beweisen
möchte, daß er Gab und Gunst an keinen Unwürdigen verschwendet habe;
dachte auch nicht an Strolche und verlaufen Gesindel, das vom
Kriege her noch in den Wäldern Umtrieb halten sollte. Wohl aber
tückete mich ein anderes, und das war der Gedanke an den Junker
Wulf. Er war mir nimmer hold gewesen, hatte wohl gar, was sein
edler Vater an mir gethan, als einen Diebstahl an ihm selber
angesehen; und manches Mal, wenn ich, wie öfters nach meines lieben
Vaters Tode, im Sommer die Vacanz auf dem Gute zubrachte, hatte er
mir die schönen Tage vergället und versalzen. Ob er anitzt in
seines Vaters Hause sei, war mir nicht kund geworden, hatte nur
vernommen, daß er noch vor dem Friedensschlusse bei Spiel und
Becher mit den Schwedischen Offiziers Verkehr gehalten, was mit
rechter Holstentreue nicht zu reimen ist.
Indem ich dieß bei mir erwog, war ich aus dem Buchenwalde in den
Richtsteig durch das Tannenhölzchen geschritten, das schon dem Hofe
nahe liegt. Wie liebliche Erinnerung umhauchte mich der Würzeduft
des Harzes; aber bald trat ich aus dem Schatten in den vollen
Sonnenschein hinaus; da lagen zu beiden Seiten die mit Haselbüschen
eingehegten Wiesen, und nicht lange, so wanderte ich zwischen den
zwo Reihen gewaltiger Eichbäume, die zum Herrensitz hinaufführen.
Ich weiß nicht, was für ein bang Gefühl mich plötzlich überkam, ohn
alle Ursach, wie ich derzeit dachte; denn es war eitel Sonnenschein
umher, und vom Himmel herab klang ein gar herzlich und ermunternd
Lerchensingen. Und siehe, dort auf der Koppel, wo der Hofmann
seinen Immenhof hat, stand ja auch noch der alte Holzbirnenbaum und
flüsterte mit seinen jungen Blättern in der blauen Luft.
"Grüß dich Gott!" sagte ich leis, gedachte dabei aber weniger des
Baumes, als vielmehr des holden Gottesgeschöpfes, in dem, wie es
sich nachmals fügen mußte, all Glück und Leid und auch all nagende
Buße meines Lebens beschlossen sein sollte, für jetzt und alle Zeit.
Das war des edlen Herrn Gerhardus Töchterlein, des Junkers Wulfen
einzig Geschwister.
Item, es war bald nach meines lieben Vaters Tode, als ich zum
ersten Mal die ganze Vacanz hier verbrachte; sie war derzeit ein
neunjährig Dirnlein, die ihre braunen Zöpfe lustig fliegen ließ;
ich zählte um ein paar Jahre weiter. So trat ich eines Morgens
aus dem Thorhaus; der alte Hofmann Dieterich, der ober der
Einfahrt wohnt und neben dem als einem getreuen Mann mir mein
Schlafkämmerlein eingeräumt war, hatte mir einen Eschenbogen
zugerichtet, mir auch die Bolzen von tüchtigem Blei dazu gegossen,
und ich wollte nun auf die Raubvögel, deren genug bei dem
Herrenhaus umherschrien; da kam sie vom Hofe auf mich zugesprungen.
"Weißt du, Johannes", sagte sie; "ich zeig dir ein Vogelnest; dort
in dem hohlen Birnbaum; aber das sind Rotschwänzchen, die darfst du
ja nicht schießen!"
Damit war sie schon wieder vorausgesprungen; doch eh sie noch dem
Baum auf zwanzig Schritte nah gekommen, sah ich sie jählings stille
stehn. "Der Buhz, der Buhz!" schrie sie und schüttelte wie
entsetzt ihre beiden Händlein in der Luft.
Es war aber ein großer Waldkauz, der ober dem Loche des hohlen
Baumes saß und hinabschauete, ob er ein ausfliegend Vögelein
erhaschen möge. "Der Buhz, der Buhz!" schrie die Kleine wieder.
"Schieß, Johannes, schieß!"--Der Kauz aber, den die Freßgier taub
gemacht, saß noch immer und stierete in die Höhlung. Da spannte
ich meinen Eschenbogen und schoß, daß das Raubthier zappelnd auf
dem Boden lag; aus dem Baume aber schwang sich ein zwitschernd
Vöglein in die Luft.
Seit der Zeit waren Katharina und ich zwei gute Gesellen mit
einander; in Wald und Garten, wo das Mägdlein war, da war auch ich.
Darob aber mußte mir gar bald ein Feind erstehen; das war der Kurt
von der Risch, dessen Vater eine Stunde davon auf seinem reichen
Hofe saß. In Begleitung seines gelahrten Hofmeisters, mit dem Herr
Gerhardus gern der Unterhaltung pflag, kam er oftmals auf Besuch;
und da er jünger war als Junker Wulf, so war er wohl auf mich und
Katharinen angewiesen; insonders aber schien das braune
Herrentöchterlein ihm zu gefallen. Doch war das schier umsonst;
sie lachte nur über seine krumme Vogelnase, die ihm, wie bei fast
allen des Geschlechtes, unter buschigem Haupthaar zwischen zwei
merklich runden Augen saß. Ja, wenn sie seiner nur von fern
gewahrte, so reckte sie wohl ihr Köpfchen vor und rief. "Johannes,
der Buhz, der Buhz!" Dann versteckten wir uns hinter den Scheunen
oder rannten wohl auch spornstreichs in den Wald hinein, der sich
in einem Bogen um die Felder und danach wieder dicht an die Mauern
des Gartens hinanzieht.
Darob, als der von der Risch deß inne wurde, kam es oftmals
zwischen uns zum Haarraufen, wobei jedoch, da er mehr hitzig denn
stark war, der Vortheil meist in meinen Händen blieb.
Als ich, um von Herrn Gerhardus Urlaub zu nehmen, vor meiner
Ausfahrt in die Fremde zum letzten Mal, jedoch nur kurze Tage, hier
verweilte, war Katharina schon fast wie eine Jungfrau; ihr braunes
Haar lag itzt in einem goldnen Netz gefangen; in ihren Augen, wenn
sie die Wimpern hob, war oft ein spielend Leuchten, das mich schier
beklommen machte. Auch war ein alt gebrechlich Fräulein ihr zur
Obhut beigegeben, so man im Hause nur "Bas' Ursel" nannte; sie ließ
das Kind nicht aus den Augen und ging überall mit einer langen
Tricotage neben ihr.
Als ich so eines Octobernachmittags im Schatten der Gartenhecken
mit beiden auf und ab wandelte, kam ein lang aufgeschossener Gesell,
mit spitzenbesetztem Lederwams und Federhut ganz alamode gekleidet,
den Gang zu uns herauf; und siehe da, es war der Junker Kurt, mein
alter Widersacher. Ich merkte allsogleich, daß er noch immer bei
seiner schönen Nachbarin zu Hofe ging; auch daß insonders dem alten
Fräulein solches zu gefallen schien. Das war ein "Herr Baron" auf
alle Frag' und Antwort; dabei lachte sie höchst obligeant mit einer
widrig feinen Stimme und hob die Nase unmäßig in die Luft; mich
aber, wenn ich ja ein Wort dazwischen gab, nannte sie stetig "Er"
oder kurzweg auch "Johannes", worauf der Junker dann seine runden
Augen einkniff und im Gegentheile that, als sähe er auf mich herab,
obschon ich ihn um halben Kopfes Länge überragte.
Ich blickte auf Katharinen; die aber kümmerte sich nicht um mich,
sondern ging sittig neben dem Junker, ihm manierlich Red und
Antwort gebend; den kleinen rothen Mund aber verzog mitunter ein
spöttisch stolzes Lächeln, so daß ich dachte: 'Getröste dich,
Johannes; der Herrensohn schnellt itzo deine Waage in die Luft!'
Trotzig blieb ich zurück und ließ die andern dreie vor mir
gehen. Als aber diese in das Haus getreten waren und ich davor
noch an Herrn Gerhardus' Blumenbeeten stand, darüber brütend, wie
ich, gleich wie vormals, mit dem von der Risch ein tüchtig
Haarraufen beginnen möchte, kam plötzlich Katharina wieder
zurückgelaufen, riß neben mir eine Aster von den Beeten und
flüsterte mir zu: "Johannes, weißt du was? Der Buhz sieht einem
jungen Adler gleich; Bas' Ursel hat's gesagt!" Und fort war sie
wieder, eh ich mich's versah. Mir aber war auf einmal all Trotz
und Zorn wie weggeblasen. Was kümmerte mich itzund der Herr Baron!
Ich lachte hell und fröhlich in den güldnen Tag hinaus; denn bei
den übermüthigen Worten war wieder jenes süße Augenspiel gewesen.
Aber diesmal hatte es mir gerad ins Herz geleuchtet.
Bald danach ließ mich Herr Gerhardus auf sein Zimmer rufen; er
zeigte mir auf einer Karte noch einmal, wie ich die weite Reise
nach Amsterdam zu machen habe, übergab mir Briefe an seine Freunde
dort und sprach dann lange mit mir, als meines lieben seligen
Vaters Freund. Denn noch selbigen Abends hatte ich zur Stadt zu
gehen, von wo ein Bürger mich auf seinem Wagen mit nach Hamburg
nehmen wollte.
Als nun der Tag hinabging, nahm ich Abschied. Unten im Zimmer saß
Katharina an einem Stickrahmen; ich mußte der Griechischen Helena
gedenken, wie ich sie jüngst in einem Kupferwerk gesehen; so schön
erschien mir der junge Nacken, den das Mädchen eben über ihre
Arbeit neigte. Aber sie war nicht allein; ihr gegenüber saß Bas'
Ursel und las laut aus einem französischen Geschichtenbuche. Da
ich näher trat, hob sie die Nase nach mir zu. "Nun, Johannes",
sagte sie, "Er will mir wohl Ade sagen? So kann Er auch dem
Fräulein gleich Seine Reverenze machen!"--Da war schon Katharina
von ihrer Arbeit aufgestanden; aber indem sie mir die Hand reichte,
traten die Junker Wulf und Kurt mit großem Geräusch ins Zimmer; und
sie sagte nur: "Leb wohl, Johannes!" Und so ging ich fort.
Im Thorhaus drückte ich dem alten Dieterich die Hand, der Stab und
Ranzen schon für mich bereit hielt; dann wanderte ich zwischen den
Eichbäumen auf die Waldstraße zu. Aber mir war dabei, als könne
ich nicht recht fort, als hätt ich einen Abschied noch zu Gute, und
stand oft still und schaute hinter mich. Ich war auch nicht den
Richtweg durch die Tannen, sondern, wie von selber, den viel
weiteren auf der großen Fahrstraße hingewandert. Aber schon kam
vor mir das Abendroth überm Wald herauf, und ich mußte eilen, wenn
mich die Nacht nicht überfallen sollte. "Ade, Katharina, ade!"
sagte ich leise und setzte rüstig meinen Wanderstab in Gang.
Da, an der Stelle, wo der Fußsteig in die Straße mündet--in
stürmender Freude stund das Herz mir still--, plötzlich aus dem
Tannendunkel war sie selber da; mit glühenden Wangen kam sie
hergelaufen, sie sprang über den trocknen Weggraben, daß die Fluth
des seidenbraunen Haars dem güldnen Netz entstürzete; und so fing
ich sie in meinen Armen auf. Mit glänzenden Augen, noch mit dem
Odem ringend, schaute sie mich an. "Ich--ich bin ihnen
fortgelaufen!" stammelte sie endlich; und dann, ein Päckchen in
meine Hand drückend, fügte sie leis hinzu: "Von mir, Johannes! Und
du sollst es nicht verachten!" Auf einmal aber wurde ihr
Gesichtchen trübe; der kleine schwellende Mund wollte noch was
reden, aber da brach ein Thränenquell aus ihren Augen, und
wehmüthig ihr Köpfchen schüttelnd, riß sie sich hastig los. Ich
sah ihr Kleid im finstern Tannensteig verschwinden; dann in der
Ferne hörte ich noch die Zweige rauschen, und dann stand ich allein.
Es war so still, die Blätter konnte man fallen hören. Als ich
das Päckchen aus einander faltete, da war's ihr güldner
Pathenpfennig, so sie mir oft gezeigt hatte; ein Zettlein lag dabei,
das las ich nun beim Schein des Abendrothes. "Damit du nicht in
Noth gerathest", stund darauf geschrieben.--Da streckt ich meine
Arme in die leere Luft: "Ade, Katharina ade, ade!"--wohl hundertmal
rief ich es in den stillen Wald hinein;--und erst mit sinkender
Nacht erreichte ich die Stadt.
--Seitdem waren fast fünf Jahre dahingegangen.--Wie würd ich heute
alles wiederfinden?
Und schon war ich am Thorhaus und sah drunten im Hof die alten
Linden, hinter deren lichtgrünem Laub die beiden Zackengiebel des
Herrenhauses itzt verborgen lagen. Als ich aber durch den Thorweg
gehen wollte, jagten vom Hofe her zwei fahlgraue Bullenbeißer mit
Stachelhalsbändern gar wild gegen mich heran; sie erhuben ein
erschreckliches Geheul, der eine sprang auf mich und fletschete
seine weißen Zähne dicht vor meinem Antlitz. Solch einen
Willkommen hatte ich noch niemalen hier empfangen. Da, zu meinem
Glück, rief aus den Kammern ober dem Thore eine rauhe, aber mir gar
traute Stimme. "Hallo!" rief sie; "Tartar, Türk!" Die Hunde ließen
von mir ab, ich hörte es die Stiege herabkommen, und aus der Thür,
so unter dem Thorgang war, trat der alte Dieterich.
Als ich ihn anschaute, sahe ich wohl, daß ich lang in der Fremde
gewesen sei; denn sein Haar war schlohweiß geworden, und seine
sonst so lustigen Augen blickten gar matt und betrübsam auf mich
hin. "Herr Johannes!" sagte er endlich und reichte mir seine
beiden Hände.
"Grüß Ihn Gott, Dieterich!" entgegnete ich. "Aber seit wann haltet
Ihr solche Bluthunde auf dem Hof, die die Gäste anfallen gleich den
Wölfen?"
"Ja, Herr Johannes", sagte der Alte, "die hat der Junker
hergebracht."
"Ist denn der daheim?" Der Alte nickte.
"Nun", sagte ich, "die Hunde mögen schon vonnöthen sein; vom Krieg
her ist noch viel verlaufen Volk zurückgeblieben."
"Ach, Herr Johannes!" Und der alte Mann stund immer noch, als wolle
er mich nicht zum Hof hinauf lassen. "Ihr seid in schlimmer Zeit
gekommen!"
Ich sah ihn an, sagte aber nur: "Freilich, Dieterich; aus mancher
Fensterhöhlung schaut statt des Bauern itzt der Wolf heraus; hab
dergleichen auch gesehen; aber es ist ja Frieden worden, und der
gute Herr im Schloß wird helfen, seine Hand ist offen."
Mit diesen Worten wollte ich, obschon die Hunde mich wieder
anknurreten, auf den Hof hinausgehen; aber der Greis trat mir in
den Weg. "Herr Johannes", rief er, "ehe Ihr weiter gehet, höret
mich an! Euer Brieflein ist zwar richtig mit der Königlichen Post
von Hamburg kommen; aber den rechten Leser hat es nicht mehr finden
können."
"Dieterich!" schrie ich. "Dieterich!"
"--Ja, ja, Herr Johannes! Hier ist die gute Zeit vorbei; denn
unser theurer Herr Gerhardus liegt aufgebahret dort in der Kapellen,
und die Gueridons brennen an seinem Sarge. Es wird nun anders
werden auf dem Hofe; aber--ich bin ein höriger Mann, mir ziemet
Schweigen."
Ich wollte fragen: "Ist das Fräulein, ist Katharina noch im Hause!"
Aber das Wort wollte nicht über meine Zunge.
Drüben, in einem hinteren Seitenbau des Herrenhauses, war eine
kleine Kapelle, die aber, wie ich wußte, seit lange nicht benutzt
war. Dort also sollte ich Herrn Gerhardus suchen.
Ich fragte den alten Hofmann: "Ist die Kapelle offen?", und als er
es bejahete, bat ich ihn, die Hunde anzuhalten; dann ging ich über
den Hof, wo niemand mir begegnete; nur einer Grasmücke Singen kam
oben aus den Lindenwipfeln.
Die Thür zur Kapellen war nur angelehnt, und leis und gar beklommen
trat ich ein. Da stand der offene Sarg, und die rothe Flamme der
Kerzen warf ihr flackernd Licht auf das edle Antlitz des geliebten
Herrn; die Fremdheit des Todes, so darauf lag, sagte mir, daß er
itzt eines andern Lands Genosse sei. Indem ich aber neben dem
Leichnam zum Gebete hinknien wollte, erhub sich über den Rand des
Sarges mir gegenüber ein junges blasses Antlitz, das aus schwarzen
Schleiern fast erschrocken auf mich schaute.
Aber nur, wie ein Hauch verweht, so blickten die braunen Augen
herzlich zu mir auf, und es war fast wie ein Freudenruf. "O
Johannes, seid Ihr's denn? Ach, Ihr seid zu spät gekommen!" Und
über dem Sarge hatten unsere Hände sich zum Gruß gefaßt; denn es
war Katharina, und sie war so schön geworden, daß hier im Angesicht
des Todes ein heißer Puls des Lebens mich durchfuhr. Zwar, das
spielende Licht der Augen lag itzt zurückgeschrecket in der Tiefe;
aber aus dem schwarzen Häubchen drängten sich die braunen Löcklein,
und der schwellende Mund war um so röther in dem blassen Antlitz.
Und fast verwirret auf den Todten schauend, sprach ich: "Wohl kam
ich in der Hoffnung, an seinem lebenden Bilde ihm mit meiner Kunst
zu danken, ihm manche Stunde genüber zu sitzen und sein mild und
lehrreich Wort zu hören. Laßt mich denn nun die bald vergehenden
Züge festzuhalten suchen."
Und als sie unter Thränen, die über ihre Wangen strömten, stumm zu
mir hinübernickte, setzte ich mich in ein Gestühlte und begann auf
einem von den Blättchen, die ich bei mir führte, des Todten Antlitz
nachzubilden. Aber meine Hand zitterte; ich weiß nicht, ob alleine
vor der Majestät des Todes.
Während dem vernahm ich draußen vom Hofe her eine Stimme, die ich
für die des Junker Wulf erkannte; gleich danach schrie ein Hund wie
nach einem Fußtritt oder Peitschenhiebe; und dann ein Lachen und
einen Fluch von einer andern Stimme, die mir gleicherweise bekannt
deuchte.
Als ich auf Katharinen blickte, sah ich sie mit schier entsetzten
Augen nach dem Fenster starren; aber die Stimmen und die Schritte
gingen vorüber. Da erhub sie sich, kam an meine Seite und sahe zu,
wie des Vaters Antlitz unter meinem Stift entstund. Nicht lange,
so kam draußen ein einzelner Schritt zurück; in demselben
Augenblick legte Katharina die Hand auf meine Schulter, und ich
fühlte, wie ihr junger Körper bebte.
Sogleich auch wurde die Kapellenthür aufgerissen; und ich erkannte
den Junker Wulf, obschon sein sonsten bleiches Angesicht itzt roth
und aufgedunsen schien.
"Was huckst du allfort an dem Sarge!" rief er zu der Schwester.
"Der Junker von der Risch ist da gewesen, uns seine Condolenze zu
bezeigen; du hättest ihm wohl den Trunk kredenzen mögen!"
Zugleich hatte er meiner wahrgenommen und bohrete mich mit seinen
kleinen Augen an. "Wulf", sagte Katharina, indem sie mit mir zu
ihm trat; "es ist Johannes, Wulf"
Der Junker fand nicht vonnöthen, mir die Hand zu reichen; er
musterte nur mein violenfarben Wams und meinte: "Du trägst da
einen bunten Federbalg; man wird dich 'Sieur' nun tituliren
müssen!"
"Nennt mich, wie's Euch gefällt!" sagte ich, indem wir auf den Hof
hinaustreten. "Obschon mir dorten, von wo ich komme, das 'Herr'
vor meinem Namen nicht gefehlet--Ihr wißt wohl, Eueres Vaters Sohn
hat großes Recht an mir."
Er sah mich was verwundert an, sagte dann aber nur: "Nun wohl, so
magst du zeigen, was du für meines Vaters Gold erlernet hast; und
soll dazu der Lohn für deine Arbeit dir nicht verhalten sein."
Ich meinete, was den Lohn anginge, den hätte ich längst
vorausbekommen; da aber der Junker entgegnete, er werd es halten,
wie sich's für einen Edelmann gezieme, so fragte ich, was für
Arbeit er mir aufzutragen hätte.
"Du weißt doch", sagte er und hielt dann inne, indem er scharf auf
seine Schwester blickte--"wenn eine adelige Tochter das Haus
verläßt, so muß ihr Bild darin zurückbleiben."
Ich fühlte, daß bei diesen Worten Katharina, die an meiner Seite
ging, gleich einer Taumelnden nach meinem Mantel haschte; aber ich
entgegnete ruhig: "Der Brauch ist mir bekannt; doch, wie meinet Ihr
denn, Junker Wulf?"
"Ich meine", sagte er hart, als ob er einen Gegenspruch erwarte,
"daß du das Bildniß der Tochter dieses Hauses malen sollst!"
Mich durchfuhr's fast wie ein Schrecken; weiß nicht, ob mehr über
den Ton oder die Deutung dieser Worte; dachte auch, zu solchem
Beginnen sei itzt kaum die rechte Zeit.
Da Katharina schwieg, aus ihren Augen aber ein flehentlicher Blick
mir zuflog, so antwortete ich: "Wenn Eure edle Schwester es mir
vergönnen will, so hoffe ich Eueres Vaters Protection und meines
Meisters Lehre keine Schande anzuthun. Räumet mir nur wieder mein
Kämmerlein ober dem Thorweg bei dem alten Dieterich, so soll
geschehen, was Ihr wünschet."
Der Junker war das zufrieden und sagte auch seiner Schwester, sie
möge einen Imbiß für mich richten lassen.
Ich wollte über den Beginn meiner Arbeit noch eine Frage thun; aber
ich verstummte wieder, denn über den empfangenen Auftrag war
plötzlich eine Entzückung in mir aufgestiegen, daß ich fürchtete,
sie könne mit jedem Wort hervorbrechen. So war ich auch der zwo
grimmen Köter nicht gewahr worden, die dort am Brunnen sich auf den
heißen Steinen sonnten. Da wir aber näher kamen, sprangen sie auf
und fuhren mit offenem Rachen gegen mich, daß Katharina einen
Schrei that, der Junker aber einen schrillen Pfiff, worauf sie
heulend ihm zu Füßen krochen. "Beim Höllenelemente", rief er
lachend, "zwo tolle Kerle; gilt ihnen gleich, ein Sauschwanz oder
Flandrisch Tuch!"
"Nun, Junker Wulf"--ich konnte der Rede mich nicht wohl enthalten--,
"soll ich noch einmal Gast in Eueres Vaters Hause sein, so möget
Ihr Euere Thiere bessere Sitte lehren!"
Er blitzte mich mit seinen kleinen Augen an und riß sich ein paar
Mal in seinen Zwickelbart. "Das ist nur so ihr Willkommensgruß,
Sieur Johannes!" sagte er dann, indem er sich bückte, um die
Bestien zu streicheln. "Damit jedweder wisse, daß ein ander
Regiment allhier begonnen; denn--wer mir in die Quere kommt, den
hetz ich in des Teufels Rachen!"
Bei den letzten Worten, die er heftig ausgestoßen, hatte er sich
hoch aufgerichtet; dann pfiff er seinen Hunden und schritt über den
Hof dem Thore zu.
Ein Weilchen schaute ich hintendrein; dann folgte ich Katharinen,
die unter dem Lindenschatten stumm und gesenkten Hauptes die
Freitreppe zu dem Herrenhaus emporstieg; ebenso schweigend gingen
wir mitsammen die breiten Stufen in das Oberhaus hinauf, allwo wir
in des seligen Herrn Gerhardus Zimmer traten.--Hier war noch alles,
wie ich es vordem gesehen; die goldgeblümten Ledertapeten, die
Karten an der Wand, die saubern Pergamentbände auf den Regalen,
über dem Arbeitstische der schöne Waldgrund von dem älteren
Ruisdael--und dann davor der leere Sessel. Meine Blicke blieben
daran haften; gleichwie drunten in der Kapellen der Leib des
Entschlafenen, so schien auch dies Gemach mir itzt entseelet und,
obschon vom Walde draußen der junge Lenz durchs Fenster leuchtete,
doch gleichsam von der Stille des Todes wie erfüllet.
Ich hatte auf Katharinen in diesem Augenblicke fast vergessen. Da
ich mich umwandte, stand sie schier reglos mitten in dem Zimmer,
und ich sah, wie unter den kleinen Händen, die sie daraufgepreßt
hielt, ihre Brust in ungestümer Arbeit ging. "Nicht wahr", sagte
sie leise, "hier ist itzt niemand mehr; niemand als mein Bruder und
seine grimmen Hunde?"
"Katharina!" rief ich; "was ist Euch? Was ist das hier in Eueres
Vaters Haus?"
"Was es ist, Johannes?" Und fast wild ergriff sie meine beiden
Hände, und ihre jungen Augen sprühten wie in Zorn und Schmerz.
"Nein, nein; laß erst den Vater in seiner Gruft zur Ruhe kommen!
Aber dann--du sollst mein Bild ja malen, du wirst eine Zeitlang
hier verweilen--dann, Johannes, hilf mir; um des Todten willen,
hilf mir!"
Auf solche Worte, von Mitleid und von Liebe ganz bezwungen, fiel
ich vor der Schönen, Süßen nieder und schwur ihr mich und alle
meine Kräfte zu. Da lösete sich ein sanfter Thränenquell aus ihren
Augen, und wir saßen neben einander und sprachen lange zu des
Entschlafenen Gedächtniß.
Als wir sodann wieder in das Unterhaus hinabgingen, fragte ich auch
dem alten Fräulein nach.
"Oh", sagte Katharina, "Bas' Ursel! Wollt Ihr sie begrüßen? Ja,
die ist auch noch da; sie hat hier unten ihr Gemach, denn die
Treppen sind ihr schon längsthin zu beschwerlich."
Wir traten also in ein Stübchen, das gegen den Garten lag, wo auf
den Beeten vor den grünen Heckenwänden soeben die Tulpen aus der
Erde brachen. Bas' Ursel saß, in der schwarzen Tracht und
Krepphaube nur wie ein schwindend Häufchen anzuschauen, in einem
hohen Sessel und hatte ein Nonnenspielchen vor sich, das, wie sie
nachmals mir erzählte, der Herr Baron--nach seines Vaters Ableben
war er solches itzund wirklich--ihr aus Lübeck zur Verehrung
mitgebracht.
"So", sagte sie, da Katharina mich genannt hatte, indeß sie
behutsam die helfenbeinern Pflöcklein um einander steckte, "ist Er
wieder da, Johannes? Nein, es geht nicht aus! O, c'est un jeu
très-compliqué!"
Dann warf sie die Pflöcklein über einander und schauete mich an.
"Ei", meinte sie, "Er ist gar stattlich angethan; aber weiß Er denn
nicht, daß Er in ein Trauerhaus getreten ist?"
"Ich weiß es, Fräulein", entgegnete ich; "aber da ich in das Thor
trat, wußte ich es nicht."
"Nun", sagte sie und nickte gar begütigend; "so eigentlich gehöret
Er ja auch nicht zur Dienerschaft."
Über Katharinens blasses Antlitz flog ein Lächeln, wodurch ich mich
jeder Antwort wohl enthoben halten mochte. Vielmehr rühmte ich der
alten Dame die Anmuth ihres Wohngemaches; denn auch der Epheu von
dem Thürmchen, das draußen an der Mauer aufstieg, hatte sich nach
dem Fenster hingesponnen und wiegete seine grünen Ranken vor den
Scheiben.
Aber Bas' Ursel meinete, ja, wenn nur nicht die Nachtigallen wären,
die itzt schon wieder anhüben mit ihrer Nachtunruhe; sie könne
ohnedem den Schlaf nicht finden; und dann auch sei es schier zu
abgelegen; das Gesinde sei von hier aus nicht im Aug zu halten; im
Garten draußen aber passire eben nichts, als etwan, wann der
Gärtnerbursche an den Hecken oder Buchsrabatten putze.
--Und damit hatte der Besuch seine Endschaft; denn Katharina mahnte,
es sei nachgerade an der Zeit, meinen wegemüden Leib zu stärken.
Ich war nun in meinem Kämmerchen ober dem Hofthor einlogiret, dem
alten Dieterich zur sondern Freude; denn am Feierabend saßen wir
auf seiner Tragkist, und ließ ich mir, gleich wie in der Knabenzeit,
von ihm erzählen. Er rauchte dann wohl eine Pfeife Tabak, welche
Sitte durch das Kriegsvolk auch hier in Gang gekommen war, und
holete allerlei Geschichten aus den Drangsalen, so sie durch die
fremden Truppen auf dem Hof und unten in dem Dorf hatten erleiden
müssen; einmal aber, da ich seine Rede auf das gute Frölen
Katharina gebracht und er erst nicht hatt ein Ende finden können,
brach er gleichwohl plötzlich ab und schauete mich an.
"Wisset Ihr, Herr Johannes", sagte er, "'s ist grausam schad, daß
Ihr nicht auch ein Wappen habet gleich dem von der Risch da drüben!"
Und da solche Rede mir das Blut ins Gesicht jagete, klopfte er mit
seiner harten Hand mir auf die Schulter, meinend: "Nun, nun, Herr
Johannes; 's war ein dummes Wort von mir; wir müssen freilich
bleiben, wo uns der Herrgott hingesetzet."
Weiß nicht, ob ich derzeit mit solchem einverstanden gewesen,
fragete aber nur, was der von der Risch denn itzund für ein Mann
geworden.
Der Alte sah mich gar pfiffig an und paffte aus seinem kurzen
Pfeiflein, als ob das theure Kraut am Feldrain wüchse. "Wollet
Ihr's wissen, Herr Johannes?" begann er dann. "Er gehöret zu denen
muntern Junkern, die im Kieler Umschlag den Bürgersleuten die
Knöpfe von den Häusern schießen; Ihr möget glauben, er hat
treffliche Pistolen! Auf der Geigen weiß er nicht so gut zu
spielen; da er aber ein lustig Stücklein liebt, so hat er letzthin
den Rathsmusikanten, der überm Holstenthore wohnt, um Mitternacht
mit seinem Degen aufgeklopfet, ihm auch nicht Zeit gelassen, sich
Wams und Hosen anzuthun. Statt der Sonnen stand aber der Mond am
Himmel, es war octavis trium regum und fror Pickelsteine; und hat
also der Musikante, den Junker mit dem Degen hinter sich, im
blanken Hemde vor ihm durch die Gassen geigen müssen!--Wollet Ihr
mehr noch wissen, Herr Johannes?--Zu Haus bei ihm freuen sich die
Bauern, wenn der Herrgott sie nicht mit Töchtern gesegnet; und
dennoch--aber nach seines Vaters Tode hat er Geld, und unser Junker,
Ihr wisset's wohl, hat schon vorher von seinem Erbe aufgezehrt."
Ich wußte freilich nun genug; auch hatte der alte Dieterich schon
mit seinem Spruche: "Aber ich bin nur ein höriger Mann", seiner
Rede Schluß gemacht.
--Mit meinem Malgeräth war auch meine Kleidung aus der Stadt
gekommen, wo ich im Goldenen Löwen alles abgeleget, so daß ich
anitzt, wie es sich ziemete, in dunkler Tracht einherging. Die
Tagesstunden aber wandte ich zunächst in meinen Nutzen. Nämlich,
es befand sich oben im Herrenhause neben des seligen Herrn Gemach
ein Saal, räumlich und hoch, dessen Wände fast völlig von
lebensgroßen Bildern verhänget waren, so daß nur noch neben dem
Kamin ein Platz zu zweien offen stund. Es waren das die Voreltern
des Herrn Gerhardus, meist ernst und sicher blickende Männer und
Frauen, mit einem Antlitz, dem man wohl vertrauen konnte; er
selbsten in kräftigem Mannesalter und Katharinens früh verstorbene
Mutter machten dann den Schluß. Die, beiden letzten Bilder waren
gar trefflich von unserem Landsmanne, dem Eiderstedter Georg Ovens,
in seiner kräftigen Art gemalet; und ich suchte nun mit meinem
Pinsel die Züge meines edlen Beschützers nachzuschaffen; zwar in
verengtem Maßstabe und nur mir selber zum Genügen; doch hat es
später zu einem größeren Bildniß mir gedienet, das noch itzt hier
in meiner einsamen Kammer die theuerste Gesellschaft meines Alters
ist. Das Bildniß seiner Tochter aber lebt mit mir in meinem Innern.
Oft, wenn ich die Palette hingelegt, stand ich noch lange vor den
schönen Bildern. Katharinens Antlitz fand ich in dem der beiden
Eltern wieder: des Vaters Stirn, der Mutter Liebreiz um die Lippen;
wo aber war hier der harte Mundwinkel, das kleine Auge des Junker
Wulf?--Das mußte tiefer aus der Vergangenheit heraufgekommen sein!
Langsam ging ich die Reih der älteren Bildnisse entlang, bis über
hundert Jahre weit hinab. Und siehe, da hing im schwarzen, von den
Würmern schon zerfressenen Holzrahmen ein Bild, vor dem ich schon
als Knabe, als ob's mich hielte, still gestanden war. Es stellete
eine Edelfrau von etwa vierzig Jahren vor; die kleinen grauen Augen
sahen kalt und stechend aus dem harten Antlitz, das nur zur Hälfte
zwischen dem Weißen Kinntuch und der Schleierhaube sichtbar
wurde. Ein leiser Schauer überfuhr mich vor der so lang schon
heimgegangenen Seele; und ich sprach zu mir: 'Hier, diese
ist's! Wie räthselhafte Wege gehet die Natur! Ein saeculum und
drüber rinnt es heimlich wie unter einer Decke im Blute der
Geschlechter fort; dann, längst vergessen, taucht es plötzlich
wieder auf, den Lebenden zum Unheil. Nicht vor dem Sohn des edlen
Gerhardus; vor dieser hier und ihres Blutes nachgeborenem Sprößling
soll ich Katharinen schützen.' Und wieder trat ich vor die
beiden jüngsten Bilder, an denen mein Gemüthe sich erquickte.
So weilte ich derzeit in dem stillen Saale, wo um mich nur die
Sonnenstäublein spielten, unter den Schatten der Gewesenen.
Katharinen sah ich nur beim Mittagstische, das alte Fräulein und
den Junker Wulf zur Seiten; aber wofern Bas' Ursel nicht in ihren
hohen Tönen redete, so war es stets ein stumm und betrübsam Mahl,
so daß mir oft der Bissen im Munde quoll. Nicht die Trauer um den
Abgeschiedenen war deß Ursach, sondern es lag zwischen Bruder und
Schwester, als sei das Tischtuch durchgeschnitten zwischen ihnen.
Katharina, nachdem sie fast die Speisen nicht berührt, entfernte
sich allzeit bald, mich kaum nur mit den Augen grüßend; der Junker
aber, wenn ihm die Laune stund, suchte mich dann beim Trunke
festzuhalten; hatte mich also hiegegen und, so ich nicht hinaus
wollte über mein gestecktes Maß, überdem wider allerart Flosculn zu
wehren, welche gegen mich gespitzet wurden.
Inzwischen, nachdem der Sarg schon mehrere Tage geschlossen gewesen,
geschahe die Beisetzung des Herrn Gerhardus drunten in der Kirche
des Dorfes, allwo das Erbbegräbniß ist und wo itzt seine Gebeine
bei denen seiner Voreltern ruhen, mit denen der Höchste ihnen
dereinst eine fröhliche Urständ wolle bescheren!
Es waren aber zu solcher Trauerfestlichkeit zwar mancherlei Leute
aus der Stadt und den umliegenden Gütern gekommen, von Angehörigen
aber fast wenige und auch diese nur entfernte, maßen der Junker
Wulf der Letzte seines Stammes war und des Herrn Gerhardus Ehgemahl
nicht hiesigen Geschlechts gewesen; darum es auch geschahe, daß in
der Kürze alle wieder abgezogen sind.
Der Junker drängte nun selbst, daß ich mein aufgetragen Werk
begönne, wozu ich droben in dem Bildersaale an einem nach Norden zu
belegenen Fenster mir schon den Platz erwählet hatte. Zwar kam
Bas' Ursel, die wegen ihrer Gicht die Treppen nicht hinauf konnte,
und meinete, es möge am besten in ihrer Stuben oder im Gemach daran
geschehen, so sei es uns beiderseits zur Unterhaltung; ich aber,
solcher Gevatterschaft gar gern entrathend, hatte an der dortigen
Westsonne einen rechten Malergrund dagegen, und konnte alles Reden
ihr nicht nützen. Vielmehr war ich am andern Morgen schon dabei,
die Nebenfenster des Saales zu verhängen und die hohe Staffelei zu
stellen, so ich mit Hülfe Dieterichs mir selber in den letzten
Tagen angefertigt.
Als ich eben den Blendrahmen mit der Leinewand darauf gelegt,
öffnete sich die Thür aus Herrn Gerhardus' Zimmer, und Katharina
trat herein. Aus was für Ursach, wäre schwer zu sagen; aber ich
empfand, daß wir uns dießmal fast erschrocken gegenüber standen;
aus der schwarzen Kleidung, die sie nicht abgeleget, schaute das
junge Antlitz in gar süßer Verwirrung zu mir auf.
"Katharina", sagte ich, "Ihr wisset, ich soll Euer Bildniß malen;
duldet Ihr's auch gern?"
Da zog ein Schleier über ihre braunen Augensterne, und sie sagte
leise: "Warum doch fragt Ihr so, Johannes?"
Wie ein Thau des Glückes sank es in mein Herz. "Nein, nein,
Katharina! Aber sagt, was ist, worin kann ich Euch dienen?--Setzet
Euch, damit wir nicht so müßig überrascht werden, und dann sprecht!
Oder vielmehr, ich weiß es schon. Ihr braucht mir's nicht zu
sagen!"
Aber sie setzte sich nicht, sie trat zu mir heran. "Denket Ihr
noch, Johannes, wie Ihr einst den Buhz mit Euerem Bogen
niederschosset? Das thut dießmal nicht noth, obschon er wieder ob
dem Neste lauert; denn ich bin kein Vöglein, das sich von ihm
zerreißen läßt. Aber, Johannes--ich habe einen Blutsfreund--, hilf
mir wider den!"
"Ihr meinet Eueren Bruder, Katharina!"
--"Ich habe keinen andern.--Dem Manne, den ich hasse, will er mich
zum Weibe geben! Während unseres Vaters langem Siechbett habe ich
den schändlichen Kampf mit ihm gestritten, und erst an seinem Sarg
hab ich's ihm abgetrotzt, daß ich in Ruhe um den Vater trauern mag;
aber ich weiß, auch das wird er nicht halten."
Ich gedachte eines Stiftsfräuleins zu Preetz, Herrn Gerhardus'
einzigen Geschwisters, und meinete, ob die nicht um Schutz und
Zuflucht anzugehen sei.